Wann das erste Wohnmobil versucht, sich als Liner zu positionieren, bleibt im Nebel der Geschichte verborgen. Was wir dagegen wissen: Ein Auto wie dieser Hymer 900 erregt Ende der 1970er Jahre in Deutschland maximales Aufsehen. Mehr Größe und Luxus als er hatte bislang noch kein Hersteller gewagt. Wir zeigen Euch einen der ersten LINER & und stellen Euch am Tech-Tuesday die Geschichte des Unternehmens Hymer vor! Steigt mit uns in eins von 28 gebauten Hymer 900 Wohnmobilen und macht einen Ausflug in die Vergangenheit historischer Luxuswohnmobile! Let’s camp!
Hymer 900
Die technischen Fakten zum deutschen LINER-Pionier
- Basisfahrzeug: Mercedes-Benz LP 813
- Baujahr: 1978 – 1983
- Motor: Reihensechszylinder-Diesel OM 352
- Hubraum: 5675 cm3
- Drehmoment: 363 Nm bei 2000/min
- Leistung: 96 kW/130 PS bei 2800/min
- Höchstgeschwindigkeit: 96 km/h
- Getriebe/Antrieb: manuelles Fünfgang-Schaltgetriebe (auf Wunsch: Viergang-Automatikgetriebe), Hinterradantrieb
- Fahrwerk: Starrachse vorne/hinten, Trommelbremsen,Bereifung 8.5 R 17,5
- Länge/Breite/Höhe: 8820/2470/3200mm
- Radstand: 4800 mm
- Leergewicht fahrbereit/Zuladung: 5950 kg/7490 kg
- Anhängelast gebremst/ungebremst: 2000/750 kg
- Material Wand/Dach/Boden: Selbsttragende GFK-Sandwichelemente,kombiniert mit Stahlrohr- und Blechverkleidung an Front und Heck
- Bordbatterien: 2 x 90 Ah
- Gasvorrat: 2 x 11 kg
- Frisch-/Abwasser-/Fäkalientank: 200/200/60 l
- Heizung: Klimagerät mit Kühl-/Heizleistung (3,0/1,4 kW); 2 x Gasheizung (8,3 kW)
- Grundpreis: 138.500 Mark (1978), 210.760 Mark (1983)
Hymer 900
Eine lange Reise
Größe ist ja ein Wort, das durchaus mit ausladenden Dimensionen zu tun hat. 8,82 Meter sind das Gardemaß des Hymer 900, dem mit großem Abstand eindrucksvollsten Reisemobil, das vor gut vier Jahrzehnten aus deutscher Produktion zu kaufen war. Heute tummeln sich in dieser Länge Modelle der gehobenen Mittelklasse, damals galt es als ein unerhört ausladendes Format.
Das heißt auch: Ein Hymer 900 ist heute sicher nicht mehr der Größte am Platze. Doch das schmälert den Nachhall seines Auftritts nicht, denn dieser frühe Gigantomane aus der mutigen Ideenschmiede des Erwin Hymer liefert bis heute eine unübertreffliche Grandezza ab. Er tritt dabei durchaus nicht zeitlos auf: Seine Jahrzehnte sieht ihm der Betrachter heute an. Doch er ist gereift mit ihnen und fokussiert völlig unbeirrt auf jenen Traum, ein Maximum dessen zu bieten, was zu seiner Zeit vorstellbar war.
Für Claudia und Ralf Nell aus Stockach ist ihr Hymer 900 auch im Jahr 2022 nicht einfach ein Reisemobil. Das würde ja heißen, es wäre ein Objekt, eine Sache, die sich so einfach tauschen ließe wie eine Funktionsjacke. Das sehen sie anders: Sie sind mit ihrem längst historischen Luxusmobil zusammengewachsen. Eigentlich reisen sie zu dritt, Claudia, Ralf und der 900, die Hunde nicht mitgezählt.
Aus einer fixen Idee wird eine dauerhafte Beziehung
Sie waren mit ihrem 900 in Spanien, ein 22-Stunden-Trip, viele Male in Frankreich und der Schweiz, regelmäßig bei Motocross-Rennen und auf dem Campingplatz Marina di Venezia. Mit seinen 6,3 Tonnen steuert Ralf Nell seine knapp neun Meter lange „Landjacht“, so tituliert sie Hymer 1978 in Pressetexten, in Richtung Ziel. Weder die Maße noch der mit seinen 130 PS unerschrocken stoisch liefernde Sechszylinder-Direkteinspritzer-Diesel schrecken die Nells davon ab, im Zweifel stets die schönere Route zu nehmen. Über den San Bernadino? Kein Problem. In alpiner Höhe ist die Pause schöner als an der Autobahnraststätte im Tal, dazu schauen die Passanten hier oben noch ungläubiger. Auf sie wirkt der voluminöse 900 wie ein Raumschiff aus einer unbekannten Galaxie.
Die beiden Stockacher kennen das. Sie berichten dann von ihrem Auto, von den 100.000 Kilometern, die Ralf Nell schon am Steuer hinter der geteilten Windschutzscheibe saß, und der Begeisterung, die sie für ihren 900 empfinden, seit sie ihn haben. Sie geben auch zu, dass er laut ist: „Der Motor dröhnt dumpf wie ein Schiffsdiesel“, sagt Ralf Nell, „und bei Tempo 80 pfeift laut der Wind um die Spiegel.“ Das ist im Prinzip bereits der Maximalmodus, und der Lärm lässt sich auch erklären: Der Copilot sitzt direkt auf dem Motor, den Mercedes-Benz beim LP 813, der technischen Basis des 900, hier kompakt platziert hat. Der theoretische Vorteil: Im Zweifel könnte sich bei jedem Wetter gemütlich im Trockenen von innen schrauben lassen. Klappt jedoch selten, weil die meisten Aggregate von oben nicht erreichbar sind.
Schnäppchen sehen anders aus. Doch der Hymer 900 zählt zu einer extrem raren Spezies
Seit Ende 1996 begleitet der 900 die Nells, nach einer etwas längeren Suche. Erst waren sie auf eine Offerte gestoßen, die auf stolze 85.000 Mark lautete. Das war zu viel. Es folgte ein Angebot, das nur ein Drittel kostete, doch umgehend verkauft war, bis Ralf Nell auf dem Hof des Konstanzer Hymer-Händlers einen 900 aufspürte. Etwas verschämt hatte der ihn, weil längst aus der Zeit gefallen, in der letzten Reihe geparkt. Für Nells war es die Chance: Gleich am nächsten Tag schlugen sie zu, für 42.500 Mark. Auch das galt als sehr selbstbewusste Summe für ein über 15 Jahre altes gebrauchtes Reisemobil. „Aber was wäre denn die Alternative gewesen?“, fragt Ralf Nell. „Ein neuer Ducato jedenfalls nicht.“
An ihrer Haltung hat sich nie etwas geändert. Das Preisniveau des 900 liegt weiterhin enorm hoch, was seinen Grund auch darin findet, dass Hymer vermutlich nicht mehr als 28 Stück seines Top-Modells gebaut hat. Er blieb auch deswegen stets ein Exot, weil ihn die Preislisten im ersten Jahr bereits mit 138.500 Mark auswiesen. Als Hymer 1983 die Manufakturproduktion der Baureihe einstellte, hatten Interessenten bereits 210.760 Mark zahlen müssen. Den Kreis potenzieller Kunden siebte das erheblich aus.
Hymer 900: Luxus pur!
Vom Farbfernsehen bis zur Mikrowelle – besser ausgestattet als die meisten Wohnungen 1978!
Hymer pries den 900 als „Dreiraumwagen“ an, mit hochwertiger Möblierung in Walnussdekor. Die Kanten sind, typisch Hymer, abgerundet und gepolstert, zudem mit Kunstleder bezogen. Bis zu sechs Personen dürfen an Bord reisen, zwei davon sitzen auf lose in den Wohnraum gestellten Sesseln.
Es ist erstaunlich, wie gut es Hymer 1978 gelingt, ein großes Volumen wie das des 900 subtil zu gliedern
Bei Nells sind diese beiden Fauteuils noch an Bord, ebenso die orginale Mikrowelle und der riesige Haushaltskühlschrank mit dem Namen Royal. Sie legen viel Wert darauf, den Charakter ihres Klassikers zu erhalten, auch wenn die Praxis mitunter Kompromisse fordert: Die Bezüge der Sitzbank und der Sessel mussten sie mittlerweile erneuern, den originalen, aber verlebten Hoch-flor-Teppich konnten sie nicht retten. Neu ist auch der Fernseher, ebenso die Sitze im Cockpit: Die drei Erstausrüster-Stücke zeigten sich auf langen Strecken zu unkomfortabel, zudem nervten die Beckengurte, die sich bei jeder Bodenwelle ein Stück weiter zuzogen. Ralf Nell montierte zwei neue, moderne Sitze mit integrierten Sicherheitsgurten.
Ebenfalls getauscht hat er den Stromerzeuger, der hinter einer Klappe auf der linken Seite ruht. Ab Werk war hier ein Aggregat mit 3,6 Kilowatt Leistung montiert, angetrieben mit Benzin aus einem eigenen 70-Liter-Tank. Das führt zu der skurrilen Situation, dass Nells an Tankstellen manchmal Diesel plus Sprit tanken – und das dann augenzwinkernd begründen, ihr alter 900 fahre schließlich mit einem Gemisch aus beidem.
Sogar mit Promi-Faktor kann der Hymer 900 trumpfen!
Wirtschaftlich brachte es der große Hymer nicht zum Erfolg. Doch er verschob die Messlatte, und das Prestige der Bad Waldseer wuchs enorm. So war Schauspieler und Komiker Didi Hallervorden ab 1981 in einem 900 auf Tournee unterwegs, den er direkt von Erwin Hymer übernommen haben soll. Auch Hiphopper Thomas D. („Die fantastischen Vier“) besaß ab 1999 einen Hymer 900 – der Musiker wohnte sogar ein Jahr lang in seinem Ex-Luxus-Mobil. Eine Gruppe rühriger Fans achtet sowieso längst sorgfältig auf den Bestand: Immerhin jeder zweite 900 soll bis heute überlebt haben
Das Unternehmen Hymer – eine Erfolgsstory
Hymer prägt die Geschichte des Reisemobils
Sein Name ist in Deutschland so eng mit der Erfolgsgeschichte der Reisemobile verknüpft wie kein zweiter: Erwin Hymer. Der Maschinenbauingenieur (1930–2013) gilt als Pionier der Branche. Erfunden hat der umtriebige Macher aus dem oberschwäbischen Bad Waldsee das Reisemobil zwar nicht, aber er hat es groß gemacht. Sogar sehr groß, wie der 900 beweist, den Hymer 1978 einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert.
Es lohnt sich, kurz zurückzublenden, zu den Anfängen. Der Start gelingt Hymer 1957 mit einem Wohnwagen, und schon 1961 entwickelt er gemeinsam mit dem Bremer Automobilhersteller Borgward sein erstes Wohnmobil. In vielen Punkten wirkt der Caravano modern: kompakt, sehr praktikabel, mit Bad und Küche eine runde Sache. Dumm nur, dass Borgward noch im gleichen Jahr in den Konkurs schlittert – und ein vergleichbares Fahrzeug auf dem Markt nicht zu finden ist.
Jedem Trend ein Stück voraus
Hymer lässt sein Wohnmobilprojekt zehn Jahre ruhen. Dann kommt er wieder, größer und eindrucksvoller. Auf Basis der Mercedes-Benz-Transporter, dem sogenannten Düsseldorfer Modell, entwirft er erste Vollintegrierte, deren Aufbau sich an Wohnwagenkonstruktionen anlehnt. Dieses Mal klappt es: Mercedes-Benz kann liefern, der Markt nimmt das Modell an, auch wenn die Stückzahlen zunächst überschaubar bleiben. Mitte der 1970er Jahre startet Erwin Hymer dann durch: Nach unten baut er seine Palette mit kompakten und preislich attraktiven Modellen auf Basis des Bedford Blitz aus, nach oben folgt 1978 mit jenem 900 ein Überraschungscoup – so viel Auto, so viel Luxus. So viel Geld.
Damit setzt Hymer ein Zeichen. Seither spielt der Hersteller im oberen Segment des Marktes beständig mit. Der aktuelle B-ML I 880 zeigt in seinem Volumen frappierende Ähnlichkeiten mit dem einstigen Flaggschiff 900: Nur gut 15 Zentimeter ist der Urahn kürzer. Heute allerdings hat sich eine Etage darüber eine neue Klasse etabliert – mit noch mehr Luxus.
Ein Auszug aus unserem Magazin „LINER Wohnmobile“
Liner Wohnmobile – Ausgabe 1/2022
Wohnmobile der Luxus-Klasse
- NEWS UND SZENE: Neues aus der Welt der luxuriösen Wohnmobile
- FAHREN UND WOHNEN:
- Morelo Grand Empire
- Concorde Liner 1090 GIO
- Carthago Chic C-LINE I 5.9, XL LE und Knaus Sun I 900 LEG
- Vario-Mobil Perfect 1200 Platinum
- Kingsize-Kaufberater
- Phoenix Top-Liner 8900 BM-MB
- Kingsize-Kaufberater
- MENSCHEN + MARKEN: Volkner
- WEGE UND ZIELE: E-Bikes & Europas Top-Campingplätze
- DAMALS UND HEUTE: Hymer 900